Südlich des Äquators steht die Welt Kopf – Plastische Chirurgie in Mosambik
Die Sonne steht in der nördlichen Himmelshälfte, die Mondsichel „liegt“ waagerecht und das Wasser wirbelt andersherum. Wir sind jenseits des Äquators, in Mosambik, im östlichen Afrika, auf der südlichen Hälfte der Welt.
An den üppig dunkelgrün ausladenden Bäumen hängen Mangos in üppig überbordender Fülle wie Kugeln am reichgeschmückten Weihnachtsbaum. Die Menschen in ihren wie hellbraune Punkte in allen Schattierungen in die grüne Landschaft eingestreuten strohgedeckten Lehmhütten verfüttern die süßen Früchte im Überfluss der Erntezeit an ihre hageren Schweine. So bleibt ihnen im Winter, der hier Sommer ist und im Dezember beginnt, eine karge Nahrungsgrundlage.
Dr. Borsche und sein Interplast-Team hatten diese abgelegene Gegend als Ziel ihres Einsatzes im November diesen Jahres ausgesucht. Hier ist die Armut groß und die medizinische Versorgung lückenhaft. Es handelt sich um die Provinz Nampula im Norden Mosambiks. Die mühsame Anreise mit mehreren Umstiegen in größeren und kleineren Flughäfen dauerte 3 Tage. Jedes Mal bangten wir um die 850 kg medizinisches Gepäck, das teilweise bei den verschiedenen Flugzeugwechseln falsch verladen wurde. Ohne verlässliche Helfer vor Ort hätte diese Reise niemals stattfinden können. Nur durch das unermüdliche diplomatische Geschick unseres mosambikanischen chirurgischen Kollegen Dr. Mario Atunes konnten wir den Zoll und weitere zermürbende bürokratische Hindernisse überwinden.
Kennenlernen durften wir Dr. Mario durch Dr. Christane Meigen, Gynäkologin in Idar-Oberstein. Sie fährt seit 18 Jahren einmal pro Jahr nach Mosambik, um Ultraschallkurse für die dortigen Ärzte zu geben. Durch sie entwickelten sich jahrzehntelange Freundschaften. Dr. Meigens damaligen Studenten sind inzwischen Klinikdirektoren und Universitätsdekane. Nur durch deren Hilfe war es uns möglich 56 Koffer mit Medikamenten und Verbandsmaterial über die Grenze ins Land zu bringen. Dort, in den Krankenhäusern mangelt es an allem. Die Patienten und Angehörige liegen zum Teil auf einem Stückchen Pappe dichtgedrängt in Fluren und Treppenhäusern. Nächstes Jahr wollen wir Bettlaken nähen lassen, die gibt es in der Klinik nicht. Waschräume und Toiletten sind eng und schwarz. Wasser fließt nur ab und zu. Zu essen gibt es nichts. Die Verpflegung obliegt den Angehörigen. Die Schwestern übernehmen keinerlei Pflegetätigkeiten. Sie verteilen die raren Medikamente, füllen mit ihren handgeschriebenen Berichten Aktenberge und wechseln Verbände, was für die Patienten zur täglichen Folter gerät, da Schmerzmedikamente und Kurznarkosemittel fehlen.
So konnten wir schon allein durch den Transport notwendiger Hilfsmittel viel Leid verhindern. Die insgesamt 115 Operationen, die wir während unseres zweiwöchigen Aufenthaltes durchgeführte haben, befreiten Kinder und junge Menschen von ihren Einschränkungen und Schmerzen.

Wie zum Beispiel Rita, 21 Jahre alt: sie wurde uns mit einer akuten Verbrennung in unsere erste Sprechstunde gebracht. Während sie vor einer Woche in der Hütte ihrer Mutter auf wackeligem Benzinkocher in einem großen schweren Tontopf heißes Wasser bereitete, stolperte sie und die heiße Flüssigkeit verbrühte ihren kompletten rechten Arm, Schulter und Flanke. Die große unversorgte offene Wundfläche verursachte unbeschreibliche Schmerzen. Wie gut, dass wir, in Erwartung solch schwerer Fälle, ein Dermatom mitgebracht hatten! Schnell war der afrikanische Kollege in den Gebrauch dieses Gerätes zur Abnahme von Spalthauttransplantaten vom Oberschenkel eingewiesen. Mit diesem Gerät konnte er auf Ritas beiden Oberschenkeln präzise die oberflächliche Hautschicht abtragen und sie in kleinen Stücken auf der riesigen Wundfläche ihres rechten Armes einnähen. Wenn alles einheilt, ist sie gerettet.
René, 4 Jahre, ist ein alter Bekannter. Vor drei Jahren wurde uns ein klitzekleines mageres Häuflein Mensch mit schweren Verbrennungen seines kleinen Oberkörpers vorgestellt. Mit größtem Bedauern mussten wir damals eine Operation ablehnen und ihn seinen schmerzenden Wunden überlassen: er hätte den Eingriff nicht überlebt. Doch die Hoffnung auf eine Rückkehr der deutschen Ärzte blieb. So konnten wir ihm tatsächlich im vorigen Jahr einen großen Teil seiner Narben nehmen und ihm in Schulter und Ellenbogen Bewegungsfreiheit zurückgeben. Wie groß war nun die Wiedersehensfreude, als seine Mutter ein uns bekanntes Gesichtchen aus ihrem Tragetuch auswickelt! Doch was war das? War die Zeit stehengeblieben? Das kleine Etwas hatte sich über das Jahr in keiner Weise verändert! Die Ärmchen dürr, die Beinchen krumm und schwach. Waage und Messlatte zeigten dieselben Werte wie vor einem Jahr! Wir sahen ihn nur auf dem Rücken seiner Mutter im Tragetuch. Kann er vielleicht nicht genug atmen, weil sein kleiner Brustkorb durch große wulstige Narbenzüge eingemauert ist? Wir mussten ihn wieder ins Programm nehmen! Wie befürchtet konnte der ausgemergelte Körper die Heilarbeit aber nur unzureichend leisten und ein Teil der Transplantate heilte nicht ein. So musste er weiter im Krankenhaus bleiben, um dort 2x wöchentlich verbunden und in ein Ernährungsprogramm aufgenommen zu werden. Möge mit einer Extraportion Protein und Vitamine die Heilkraft des Kleinen gesteigert werden. Wir wollen ihm auch im nächsten Jahr noch einmal operativ helfen.
Vor 2 Jahren erkrankte der 17jährige Ivo an einem Nasenkrebs. Da in Nampula kein Plastischer Chirurg vorhanden war, konnte nur die gesamte Nase amputiert werden. Der junge Mann blieb mit einem vernarbten schwarzen Loch in der Mitte seines Antlitzes zurück. Wie glücklich war er, als er hörte, dass ein Team aus Deutschland in diesen abgelegenen Teil der Welt kommen wollte. Vielleicht könnten die Europäer einen Teil seiner Entstellung beseitigen? Als er dann nach achtstündiger Operation aus der Narkose erwachte, traute er seinen Händen nicht! Unter einem kleinen Gipsverband fühlte er eine komplett neue Nase! Einen Taschenspiegel beim nächsten Verbandswechsel wollte er gar nicht aus der Hand geben, so überglücklich war er über sein neues Gesicht! Da hatten die Ärzte aber auch eine absolute Speziallistenleistung vollbracht! Dr. Borsche und Dr. Federico Becker, der viele Jahre in der plastisch-chirurgischen Abteilung der Diakonie Bad Kreuznach ausgebildet wurde, hatten aus Oberarmhaut, Rippenknochen und Ohrknorpel ein Nasengerüst geformt und es mit Haut aus der Stirn des Patienten bedeckt.


Die junge Mutter von Sueli, 15 Monate hat sich das Leben mit ihrem ersten Kind sicher anders vorgestellt. Schon in der sechsten Lebenswoche schwoll Suelis Kopf langsam auf Fußballgröße an: sein Gehirnwasser konnte nicht abfließen. Glücklicherweise verfügte das Krankenhaus zu dieser Zeit über genügend Hirnkatheter und eine neurochirurgische Operation ließ den Liquor wieder fließen. Nach einem Jahr musste die Operation wiederholt werden und nun, während wir vor Ort waren, war der Katheter zum dritten Mal verstopft. Was jedoch noch mehr ins Auge fiel, war ein männerfaustgroßer Sack, der zwischen Suelis Augenbrauen entsprang, sein Gesichtchen bis zum Kinn verdeckte und bei jeder Kopfbewegung hin und her baumelte. Konnten die Plastischen Chirurgen aus Deutschland diese Entstellung beseitigen? Vorsichtig wurde in einer 7-stündigen Operation der schwere Sack abgetragen und das Ursprungsloch am Schädelknochen mit Rippenknorpel verschlossen. Da kurz nach der Operation der kleine Körper mit Fieber reagiert, legten unsere Anästhesisten noch in der Nacht einen zentralen Venenkatheter, sodass die Antibiotika schnell wirken konnten. Vorsichtig hielt die junge Mutter ihr Kind auf dem Schoß und blickte wie im Traum in Suelis unverstelltes Gesichtchen.


Die schwierige Aufgabe der Koordination der Operationen wurde von Dr. Eva Borsche gemeistert. Zusammen mit Medizinstudent Ravié Borsche, der tatkräftig bei Anästhesie und Chirurgie Unterstützung leistete, galt es eine logistische Struktur aufzubauen und aufrecht zu halten, was bei 2 parallel laufenden Operationssälen einer artistischen Leistung gleichkam. Bei den meisten Operationen handelte es sich um kleine Kinder mit verkrüppelten Fingern, die mit ihren forschenden Händchen in heiße Asche, defekte Stromkabel oder heißes Wasser gefasst hatten.

Durch einen Glücksfall hatten wir auf unserem Einsatz die auf Neuropädiatrie spezialisierte Physiotherapeutin Verena Stör dabei. Frischoperierte, Kinder mit heftigsten postoperativen Schmerzen, die durch Dehnung der inneren Strukturen bei der operativen Aufrichtung der kontrakten Finger entstanden, lachten und kicherten fröhlich und weltvergessen, wenn Verena ihre winzigen Geschenke verteilte und mit den kleinen Patienten ihre Späße machte.

Fast allen kleinen Patienten durften wir uns bei der Erstvorstellung keinesfalls nähern, ohne dass sie in heftiges Weinen ausbrachen. Traumatisiert durch das initiale Erlebnis der Verbrennung und durch die Schrecken der vorangegangenen ärztlichen Behandlung ihrer offenen Wunden ohne Betäubung oder Schmerzmittel hatten alle zunächst große Angst. Um genau dem abzuhelfen, hatten wir 3 Narkoseärzte und 2 Anästhesiepfleger mit in unserem Team: Dr. Gabi La Rosée und Dr. Ales Stanek als ehemalige Chefärzte mit jahrzehntelanger Berufserfahrung, Felix Tietze als junger Assistenzarzt und Feuerwehrmann, der Anästhesiepfleger Kurt Voigt, dem in fast 50jähriger Berufstätigkeit jeder Handgriff in Fleisch und Blut übergegangen ist sowie Selina Gönüleglendiren, ein junges Pflegetalent, die Herz und Verstand direkt in ihre Arbeit einfließen lässt.
Jeder Verbandswechsel fand ohne irgendeine Träne in einem kurzen Narkoserausch statt, sodass die Kinder trotz teilweise längerer Prozeduren keinerlei Schmerz spürten. Schwere Fälle bekamen anschließend einen regionalen „Nervenblock“ gesetzt, sodass sie auch mehrere Stunden nach dem Eingriff schmerzfrei blieben.

Dass unsere Operationsergebnisse bis auf jene bei Rita und René zu 100% angegangen sind, verdanken wir unseren beiden OP-Pflegern Sinischa Wagner und Ela Gauch. In den Operationssälen, in denen sich Neugierige, Lernwillige und Hilfsbereite teilweise gefährlich eng an die steril gekleideten Operateure drängten, schufen sie Struktur, wo Chaos herrschte, sorgten sie für Sauberkeit. 38 Koffer voller Operationsmaterial hatten sie für das mittellose Krankenhaus in Nampula zusammengestellt, so dass jede Operation professionell geplant nach deutschen Standards von Hygiene und Sterilität durchgeführt werden konnte.

Das Besondere an diesem Einsatz war die Konsequenz, mit der dieses Mal der Lehrauftrag von Interplast erfüllt werden konnte. Jede Operation wurde unter Mitwirkung afrikanischer Kollegen durchgeführt, jeder Schritt eingeübt und in seiner Ausführung überprüft. So konnten wir am Ende des Einsatzes erleben, wie zum ersten Mal in Nampula selbständig große Verbrennungsoperationen durchgeführt wurden. Unser Dermatom überließen wir gerne den dortigen jungen Ärzten. Es wird in ihren Händen wertvolle Dienste leisten.
Auch die Bevölkerungspyramide steht in Mosambik aus unserer Perspektive auf dem Kopf: Nicht nur, dass unter unseren Patienten nur zwei oder drei ältere Menschen waren, nein, auch für unseren ärztlichen Kollegen gilt dieser „Kopfstand“. Haben wir in Deutschland in großer Zahl ältere erfahrene und bestausgebildete Experten mit Nachwuchsmangel, lebt in Mosambik eine große Anzahl junger Ärzte ohne lebenserfahrene Vorbilder oder Lehrer mit langjähriger Berufserfahrung. Der chirurgische Chefarzt von Nampula, gerade 40 Jahre alt, und seine Fachärzte oder Assistenten, deutlich jünger, scharten sich voller Wissensdrang um unsere Experten, filmten jeden Operationsschritt, fragten nach und schrieben auf, gaben detailgetreu die neuen Anweisungen wiederum an ihre Schüler weiter. Die Geräte, die wir anwendeten und ihnen zum Teil bei unserem Abschied überließen wurden mit größter Sorgfalt geputzt, herumgereicht und bewundert. Unglaublich, wieviel Wissenstransfer in 2 Wochen von statten ging, wie schnell, wie behände, umsichtig und einfühlsam die jungen Kollegen die einzelnen Schnitte und Stiche einer Operation nach wenigen Tagen eigenhändig nachvollzogen.
So lohnt es weiter an diesem Wissens- und Heilungstransfer zu arbeiten und wir hoffen nächstes Jahr all unsere neu erworbenen Freunde in Mosambik wiederzusehen!

Mehr Informationen: https://interplast-germany.de